Interview von Solidarisch in Gröpelingen und Bergfidel Solidarisch mit Débora Nunes vom Direção Nacional do MST (Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land in Brasilien)
Wir freuen uns sehr, dass du dir die Zeit nimmst, um uns über die Erfahrungen des MST insbesondere über das Konzept der Basisarbeit, zu berichten.
Hallo und schönen Nachmittag. Ich bin meinerseits sehr froh, dass ich teilnehmen kann. Dass ich Erfahrungen teilen kann, aber auch Hoffnung. Denn wir haben vieles gemeinsam. Es gibt ja Herausforderungen, die wir teilen – wir bei uns, ihr in Deutschland. Also vielen Dank, dass ihr mich eingeladen habt.
Wir würden erstmal mit der Frage beginnen, was der MST genau ist. Kannst du uns ein wenig darüber erzählen, wie der MST entstanden ist und was er für eine Organisation ist?
Der MST ist die Bewegung der Arbeiter:innen ohne Land. Der MST ist in den 1980er Jahren entstanden, genauer gesagt, 1984. Und ich denke auch für eure Arbeit ist es wichtig zu wissen, dass der MST nicht von einer Person gegründet wurde, also einer Person, die eines morgens inspiriert aufgewacht ist und sich gedacht hat, jetzt gründe ich mal so eine Organisation. Sondern der MST ist aus den strukturellen Notwendigkeiten entstanden, die es in der damaligen Situation gab. Und diese Situation war folgende: Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine Veränderung in der Landwirtschaft. Der Kapitalismus hat sich in der Landwirtschaft organisiert. Es gab viele Veränderungen, z.B. wurden immer größere Maschinen und immer mehr Chemie eingesetzt und immer mehr Menschen wurden von ihren Ländern vertrieben. Vor allem die Menschen, die keinen Landtitel hatten, also nur auf den Ländereien gearbeitet und produziert haben, aber keine Eigentumsrechte besaßen. Sie wurden vertrieben und sind in die Städte gegangen und hatten dort weder Arbeit, noch ein Zuhause, noch Zukunftsaussichten. Das war die reale Notwendigkeit, sich zu organisieren. Und anders als in anderen Teilen der Welt gab es in Brasilien keine Agrarreform. Also man darf das nicht falsch verstehen, eine Agrarreform ist jetzt nicht unbedingt etwas revolutionäres. Selbst das kapitalistische System braucht eine bestimmte Form der Agrarreform, weil es Menschen braucht, die auf dem Land leben, Lebensmittel produzieren, Rohstoffe produzieren. Aber in Brasilien hat es nicht einmal diese klassische Form der kapitalistischen Agrarreform gegeben. Deswegen gab es diese große Notwendigkeit. Die Bewegung ist entstanden, um eben diese Arbeiter:innen vom Land zu organisieren, um vor allem einen Zugang zu Land zu organisieren. Es braucht Zugang zu Land, um Arbeit zu garantieren, um Gesundheit zu garantieren, um ein Zuhause für die Menschen zu garantieren. Und da der brasilianische Staat eben nicht bereit war, den Menschen diese Rechte zur Verfügung zu stellen, gab es die Notwendigkeit, sich zu organisieren und zu kämpfen, um diese Rechte einzufordern.
Der MST entstand also aufgrund der Notwendigkeit, Land zu haben. Der MST existiert seit 38 Jahren. Er ist die einzige Organisation – die einzige Massenorganisation oder ländliche Massenorganisation – die seit 38 Jahren existiert. Alle anderen Organisationen, Ansätze usw. wurde von oben zerschlagen. Aber wir haben verstanden, dass es eben nicht nur ein Kampf um Land ist, sondern dass auch andere Kämpfe essenziell sind, um weiter bestehen zu können. Zum Beispiel der Kampf um Gerechtigkeit, der Kampf für eine Transformation der Gesellschaft, der Kampf zur Umverteilung von Reichtum, also nicht nur materielle, sondern auch andere Reichtümer und Werte, um auch so etwas wie Individualismus, Egoismus und andere Werte, die das kapitalistische System vertritt, überwinden zu können. Und wir haben gesehen, dass es auch andere Kämpfe in anderen Sektoren gibt, mit denen wir uns vereinigen müssen, um für unsere Rechte kämpfen und auch etwas erreichen zu können.
Der MST hat ja den Ansatz der Basisarbeit sehr stark geprägt. So gibt es z.B. eine Veröffentlichung des MST mit dem Titel „Wiederaufnahme der Basisarbeit“. Kannst du etwas genauer ausführen, was der MST unter Basisarbeit versteht? Welche Kriterien muss Basisarbeit erfüllen, damit sie einen transformativen Charakter hat. Auch vor dem Hintergrund, dass dieser Ansatz in Deutschland oder auch anderen Teilen von Europa nicht sehr weit verbreitet ist und die linke Bewegung wenig Verankerung in der Gesellschaft hat. Wir gehören zu denjenigen Gruppe, die ein Interesse daran haben, Modelle für eine Basisarbeit in den hiesigen Verhältnissen zu entwickeln. Deshalb interessiert uns dieser Aspekt.
Wenn wir von Basisarbeit sprechen, dann sprechen wir von zwei Dimensionen. Zum einen, geht es darum, die Gesellschaft einzuladen, sich zu organisieren. Also wenn man an die 80er Jahre zurück denkt, gab es eine Masse an Arbeiter:innen ohne Land und ohne Arbeit, die von den Ländereien verdrängt wurden und keine Perspektive hatten, sich zu organisieren. Es gab keine spontanen Organisierungen. Als erstes ging es darum, sich zu organisieren, die landlosen Menschen einzuladen und zu sagen: Es ist möglich, wenn wir uns organisieren. Dann ist es möglich, etwas zu bewirken. Also Menschen aus der Peripherie, aus den Favelas, Menschen, die keine Arbeit und nicht genügend Lebensmittel hatten. Es ging darum, sie dazu einzuladen, sich zu organisieren, mit dem Bewusstsein, dass der Staat nichts von alleine machen wird. Und das obwohl es ja eine relativ fortschrittliche Verfassung in Brasilien gibt und auch damals schon gab, diese Rechte, die in der Verfassung festgeschrieben sind, nur dann umgesetzt werden, wenn Druck ausgeübt werden kann, indem man sich organisiert.
Die zweite Dimension ist die Bewusstseinsbildung. Nehmen wir ein Beispiel wie hohe Energiekosten. Normalerweise gehen die Menschen nicht darüber hinaus, sich zu beschweren, dass die Gebühren zu hoch sind oder die Kosten einfach nicht zu bezahlen, weil sie nicht in der Lage dazu sind. Basisarbeit bedeutet aber, dass man das gesamte System infrage stellen lernt. Dass man die Tatsache, dass die Energiepreise so hoch sind, nicht als etwas Natürliches begreift, sondern dass man sagt, Energie ist etwas Gemeinschaftliches, sie gehört allen, sie wird aus der Natur gewonnen, z.B. aus Wasser und die Preise sind so hoch, weil die Energie privatisiert ist. D.h. diesen Prozess muss man verstehen und eben nicht als etwas Natürliches annehmen. Es geht also um eine Art Bewusstwerdung/Erweckung. Deswegen ist es essenziell Basisarbeit zu machen. Basisarbeit ist also direkt verlinkt mit einer Bewusstseinsbildung und es ist ein permanenter Prozess, also es gibt nicht einen Anfang und ein Ende von Basisarbeit, sondern es ist ein Prozess, der kontinuierlich fortgesetzt werden muss.
Es gibt dabei drei Ziele, die wir mit der Basisarbeit verfolgen. Das erste Ziel ist die massenhafte Partizipation der Arbeiter:innen, um Auseinandersetzungen und Kämpfe führen zu können. Es geht darum, durch diese Auseinandersetzungen und Kämpfe, die Regierung infrage zu stellen. Für eine massenhafte Partizipation braucht es Multiplikator:innen oder multiplikatorische Effekte, um eben mehr Menschen werden zu können. Wir können nicht nur zehn Menschen bleiben, sondern jede der zehn Personen muss eine Multiplikator:in werden, die wiederum zehn weitere Menschen aktiviert, anruft, mitbringt, miteinbezieht und nur so können wir garantieren, dass viele Menschen an dem Prozess teilnehmen.
Das zweite Ziel der Basisarbeit ist eine Demokratisierung der Macht. Es geht darum, Menschen zu befähigen, ihre Probleme selbst zu verstehen und in einem kollektiven Prozess Lösungen zu erarbeiten. Aber es geht auch darum, neue Werte umzusetzen, die den genannten kapitalistischen Werten gegenüber gestellt werden können und die wir für unsere Lösungen brauchen, wie Solidarität. Damit die Macht im Dienste der Mehrheit steht und die Probleme im Alltag gelöst werden können.
Das dritte Ziel der Basisarbeit ist der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Das Ziel ist also, den Kampf zu organisieren und mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Ausbeutung und den ganzen Unterdrückungen zu brechen. Wichtig dabei ist, dass es eine Perspektive des Klassenkampfes gibt. Warum beharren wir so auf der Perspektive des Klassenkampfes? In der Welt in der wir leben existieren sehr tiefe Ungleichheiten. Die ständige Akkumulation von Reichtum in den Händen weniger. Auch während der Pandemie haben wir gesehen, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Deswegen braucht es eine Perspektive des Klassenkampfes, in der die Bevölkerung (das Volk „o povo“) sich organisiert und sich vorbereitet für diese Konfrontationen.
Aber dabei ist eines wichtig: Es gibt kein Rezept für Basisarbeit, sondern es gibt erstmal nur die Notwendigkeit als Ausgangspunkt und es geht darum, bereit zu sein, um die Ungleichheiten anzugehen und einen permanenten politischen und ideologischen Kampf und eine politische Arbeit zu entwickeln.
Um ein Beispiel aus der Sicht des MST zu geben: Die Menschen kommen zum MST aus einer Notwendigkeit heraus, nämlich der Tatsache, dass sie kein Land haben und kein Haus. Aber in dem Prozess des Kampfes entstehen andere Notwendigkeiten, andere Bedürfnisse. Diese Kämpfe aufzunehmen, ist nur möglich, wenn es eine politische und ideologische Bewusstwerdung gibt, die permanent stattfindet. Es geht darum, zu verstehen, wie die Gesellschaft aufgebaut ist, wie Ungleichheit organisiert ist, wie sie sich immer weiter fortsetzt. Warum manche Menschen kein Haus haben und andere 2, 3 oder viele Häuser und wie die Gesellschaft zusammen gesetzt ist. Nur wenn man das versteht, ist man auch bereit zu kämpfen oder weiß, wo man wie kämpfen muss.
Eine Frage, die uns hier beschäftigt ist, wie kann es überhaupt gelingen, Menschen in die Organisation einzubinden. Wie gelingt es, dass Menschen an Treffen teilnehmen und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass kollektive Organisierung wichtig ist. Und wie funktioniert so ein Politisierungsprozess? Wie gelingt es, Menschen in den MST einzubinden?
Wie gesagt, am Anfang kommen die Menschen aufgrund der Notwendigkeit. In Brasilien gibt es keine Kultur der Partizipation, also der politischen Partizipation. Das Verständnis ist so, dass man an den Wahlen teilnimmt – es gibt auch eine Wahlpflicht in Brasilien – und dann lebt man mit der repräsentativen Demokratie. Und niemand fragt, ob es besser ist, eine Schule zu bauen oder eine Statue auf einem öffentlichen Platz. Das möchten wir infrage stellen. Wenn die Menschen zu uns kommen, dann geht es darum, sie zu überzeugen, gemeinsam zu diskutieren, gemeinsam zu reflektieren. Dass es eben niemanden gibt, der unsere Probleme löst. Wenn wir sie nicht selbst lösen, dann gibt es niemanden, der sie löst. Nicht der Bürgermeister, nicht die Stadträtin, nicht die Abgeordnete. Wir müssen uns organisieren, unter anderem auch um Druck auf Repräsentant:innen aufzubauen – auch wenn das nur ein Teil ist. Es geht also darum, sich zu organisieren und alle möglichen Menschen einzubinden. Und es geht auch darum, dass alle eine Verantwortung haben. Also alle Menschen haben eine bestimmte Aufgabe innerhalb des Prozesses. Wir haben bestimmte Übereinkünfte, bestimmte Prinzipien und Werte. Wenn man diese nicht akzeptiert, dann kann man eben nicht mitmachen. Das Ziel ist aber, über die konkreten Kämpfe das Bewusstsein anzuheben und zu verstehen, in welcher Realität wir leben und wie wir diese Realität verändern können. Und wichtig ist, zu realisieren, dass wir nicht von anderen abhängig sind, sondern nur, wenn wir selbst etwas machen, wird sich auch etwas ändern.
Eine wichtige Frage für uns, die auch die ganze Welt betrifft, ist die Frage der Organisation der Arbeiter:innen mit dem Ziel grundlegender struktureller Veränderungen. Dabei ist auch ein wichtiger Aspekt, die Ergebnisse des Kampfes zu sehen und darüber Menschen zu organisieren. Viele Menschen haben jahrelang ohne Land gelebt und nur durch die populäre Organisierung ist es gelungen, sich Land kollektiv wieder anzueignen. Das zeigt die Wichtigkeit von so einer Organisation. Weil man das spontan und einzeln nicht geschafft hätte. Und man merkt, wenn die Menschen sich als ein Teil des Prozesses sehen, dann sind sie auch bereit Verantwortung zu übernehmen und den Prozess aktiv weiter zu bringen. Aber wir müssen uns auch nichts vormachen. Wir laden Millionen von Menschen ein und die bleiben nicht alle dabei. Nur ein Teil der Menschen bleibt jeweils, bei uns 800.000. Aber wenn Menschen sehen, was wir erreicht haben, die Erfolge, dann werden auch andere davon angezogen und verstehen, dass es wichtig ist, sich zu organisieren. Das ist unsere Erfahrung. Wenn wir am Anfang Menschen einladen, mit zu einer Besetzung zu gehen, dann kommen viele aus Angst nicht mit. Es gibt ja auch bewaffnete Gruppen, die verhindern sollen, dass Land besetzt wird oder dass Menschen an solchen Besetzungen teilnehmen. Aber wenn sich die Gesellschaft solidarisch erklärt, wenn es Erfolge gibt, dann entsteht so ein gewisser Spirit, und dann merkt man auch, es geht was voran, so können wir was bewirken.
Essentiell für die Basisarbeit ist, dass man die Realität kennt, dass man die Realität der Menschen kennt, mit denen man zusammen arbeitet. Wenn man diese Realität kennt, dann gibt es eine andere Möglichkeit, zu verstehen, was die Menschen sagen und konkret mit ihnen zu arbeiten. D.h. die Aktivist:innen des MST, die in die Viertel gehen, die die Basisarbeit machen, sie müssen die Bedürfnisse und Realitäten der Menschen kennen. Sie müssen sowohl wissen, was fehlt in den Communities als auch was sind die Potentiale.
So muss man eben eine Bewegung entstehen lassen. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass es ein permanenter Prozess ist, dass man Treffen organisiert, zu verschiedenen Aktivitäten, dass man eine Idee von einer politischen Organisation hat und eben so etwas ins Rollen bringt.
Wichtig ist aber auch, dabei mit anderen Organisationen zusammen zu arbeiten. Es ist total gefährlich, sich zu isolieren. Man darf sich nicht isolieren, wenn man Ungleichheiten aufbrechen will. Denn wir haben mächtige Feinde, den wir gegenübertreten. Als MST z.B. sind wir im Süden von Brasilien entstanden, aber wir haben von Anfang an verstanden, dass wir keine lokale Bewegung bleiben dürfen, also nur im Süden. Sondern es muss eine landesweite Bewegung werden, weil es sonst sehr einfach für die Eliten gewesen wäre, die Bewegung zu zerstören und sie in kleinere Stücke aufzuteilen.
Wir haben erlebt, dass es seit den 1990er Jahren mit der Vertiefung und Ausbreitung des Kapitalismus schwieriger geworden ist, das Bewusstsein oder die Hoffnung bei Menschen zu wecken, dass Veränderung der Gesellschaft möglich ist. Selbst politische Aktivist:innen kämpfen immer wieder mit sich, um dieses Bewusstsein in sich aufrecht zu erhalten. Du hast ja gesagt, kleine Erfolge sind wichtig. Was würdest du sagen, wie kann man als Aktivist:in eine innere Stärke entwickeln und was braucht es als Organisation, um diese Kraft, diese Hoffnung weiter zu geben?
Als ich vorhin gesprochen habe, habe ich genau das gemeint, was du jetzt sagst. Also wenn man heute vom MST und der Geschichte des MST spricht, dann hört sich das ganz einfach an. Dann kann ich das als Erfolgsgeschichte erzählen. Es gibt den MST schon fast seit 40 Jahren. Aber es ist nicht einfach gewesen, eben weil der Kapitalismus so pervers ist, weil der Kapitalismus so zerstörerisch ist. Und es geht eben nicht nur darum, dass die Menschen ein würdiges Zuhause haben, eine Arbeit mit der sie die Familie ernähren können, usw. Es geht auch um Fragen der Subjektivität. Man muss verstehen, dass die Menschen keine Maschinen sind, sondern dass es Subjektivität der Menschen gibt. Dass es Frustrationen gibt, viele Enttäuschungen, auch viele Werte, die die kapitalistische Gesellschaft in die Menschen einpflanzt, die die Menschen mitbringen aus dieser Gesellschaft und genau da müssen wir daran arbeiten. Die Menschen müssen sich als Teil des Prozesses fühlen. Es geht nicht darum, dass z.B. ein Tobias sagt, was zu tun ist und alle machen das. Sondern man muss sich selbst verantwortlich fühlen für den Prozess, als Teil des Ganzen. Und man muss dieses Gefühl der Gemeinschaft nähren und unterstützen, dieses Gefühl mit anderen zu sein und gemeinsam was zu bewegen, das ist eben etwas anderes, als wir in dieser Gesellschaft kennen oder erfahren. Also es geht um etwas wie Subjektivität, aber nicht im romantisierenden Sinne. Also es geht nicht darum, etwas schön zu reden. Sondern die Hoffnung zu bewahren. Wie der Pädagoge Paulo Freire auch gesagt hat: Wir müssen hoffend weitermachen (esperançar = das ist eine Wortneuschöpfung aus hoffen, warten und machen). Die Bewegung muss diese Transformation ständig neu erschaffen.
Um nochmal zu verdeutlichen, was das bedeutet. Brasilien ist ja ein sehr christliches Land, bis heute. Bis heute gibt es relativ viele Menschen, die auch z.B. die Ungleichheit in Brasilien aber auch auf der Welt damit begründen, dass es Gott eben so gewollt und die Menschen so erschaffen hat. Manche die reich sind, manche die arm sind und das ist eben so. Da müssen wir anfangen, das bedeutet in Brasilien Basisarbeit zu machen. Solche Vorstellungen zu durchbrechen. Zu sagen: Nein, was sind die Prozesse, die dahinter stehen und warum haben manche Menschen viel und ganz viele fast nichts. Also eine pädagogische Reflexion zu betreiben. Und einen kritischeren Blick auf die Gesellschaft zu entwickeln. Und wenn Menschen anfangen so etwas zu verstehen, dann fangen sie an, sich auch in die Bewegung zu verlieben. Wenn sie anfangen, Dinge zu verstehen, die sie vorher nicht verstanden haben, dann entwickelt sich eine Leidenschaft für die Bewegung. Und es ist wichtig, dass die Menschen selbst Protagonist:innen in diesem Prozess sind.
Wir würden gerne nochmal auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen. Aktuell gibt es in Brasilien ja große Demonstrationen gegen den faschistischen Präsidenten Bolsonaro. Welche Rolle spielt der MST in diesen Protesten, oder wie geht eine Organisation, die v.a. Basisarbeit macht, in so einer Situation mit solchen Protesten um, nimmt sie teil oder wie verhält sie sich?
Bedauerlicherweise sind wir ja in einer sehr traurigen Situation in Brasilien, auch einer sehr herausfordernden Situation für alle Arbeiter:innen. Die Regierung ist letztendlich nichts anderes als eine Militärregierung, also die Praktiken der Regierung sind genauso angelegt wie die einer Militärregierung. Die Regierung ist unglaublich korrupt, sie ist chauvinistisch, homophob usw. Es ist eine ultra-neoliberale Regierung, die alle öffentlichen Dienstleistungen, die es davor gab und selbst den Staat an sich zerstört. Und wir sind seit über einem Jahr dabei uns mit anderen Organisationen zu organisieren, die Leute zu mobilisieren. Dabei ist auch wichtig, sich die Situation der Pandemie vor Augen zu halten. In Brasilien gab es schon über 500.000 Tote, die auf Corona zurück zu führen sind. Und zusammen mit anderen Organisationen, also mit politische Organisationen, Gewerkschaften, linken Parteien usw. gehen wir auf die Straße. Weil wir denken, dass diese Regierung noch tödlicher ist, als das Corona Virus.
Und jenseits der vielen Toten, die es in Brasilien aufgrund von Corona gab, ist auch der Hunger zurück gekommen. Über 50 % der Bevölkerung erfahren irgendeine Art der Ernährungsunsicherheit, über 20 Millionen Menschen haben keine Garantie für drei Mahlzeiten am Tag, und es gibt eben die vielen Toten. Deshalb sind wir auf der Straße. Unsere Forderungen sind u.a.: Impfmöglichkeiten für alle – wir sind weit davon entfernt, dass die Menschen sich alle impfen lassen können. Unsere Forderung ist, Essen auf den Tellern. Und unsere Forderung ist, diese Regierung abzusetzen. Um das etwas besser zu verstehen, wir sind gerade in Brasilien in einem Moment, wo wir nicht den Kampf um Land weiter führen können, also Landbesetzungen, sondern wir befinden uns in einem Moment, in dem wir um das Land Brasilien kämpfen müssen. Wir reden darüber auch in unserer Basis. Landbesetzungen können gerade keine Priorität haben, weil wir dafür kämpfen müssen, dass die Demokratie zurück kommt, um danach erst wieder die Möglichkeit zu haben, den Kampf um Land aufnehmen zu können.
Also es ist wirklich eine schwierige Situation mit einer Regierung, die voll von Militärs ist. Eine völlig korrupte Regierung, die ihre Mindestaufgaben nicht erfüllt, sondern zerstörerisch ist, das Gesundheitssystem zerstört, das Bildungssystem zerstört. Aber wir sind weiter dabei, zu kämpfen, hoffend weiter zu machen und zu mobilisieren, was sehr wichtig ist. Aber wir machen auch in diesem Moment mit Basisarbeit weiter, also sowohl Mobilisierungen auf die Straße aber auch Basisarbeit. Weil viele eben von den Folgen dieser Politik betroffen sind, Hunger haben, arbeitslos sind, weil wir ein schlechtes Bildungs- oder Gesundheitssystem haben. Es geht auch darum, die Menschen in den dörflichen Gemeinden, der Peripherie, zu erklären, woher kommen denn die Probleme, die wir haben, wie sind sie entstanden und sie einzuladen, sowohl gegen das Virus zu kämpfen als auch gegen die Regierung, damit sie ein würdiges Leben führen können.
Da Naturzerstörung auch einen Klassenzusammenhang hat und arme Menschen am meisten betrifft und Naturzerstörung auch in Brasilien sehr präsent ist, wie z.B. im Amazonas, ist unsere Frage, spielt der ökologische Kampf oder der Kampf gegen Klimawandel9 eine Rolle für den MST? Und wenn ja, wie kann man Menschen, die sich beim MST organisieren, dazu motivieren, für etwas zu kämpfen, dass vielleicht ein bisschen indirekter ist, als der Kampf für Land ?
Die Fragen der Umweltzerstörung und auch des Klimawandels haben sehr viel mit unserem Kampf zu tun. Es geht ja um Gemeinschaftsgüter, die Natur, Land als Gemeinschaftsgut. Wir wehren uns gegen ein bestimmtes Modell des Agrobusiness, der kapitalistischen Landwirtschaft, also einer Konzentration von Land aber auch Natur in wenigen Händen und einer Aneignung von Natur, von Wasser, von Biodiversität in den Händen weniger. Das ist das Landwirtschaftsmodell, gegen das wir uns wehren. Die ganzen Fragen von Kohlenstoff usw. Also es ist essentiell notwendig, dass wir gegen dieses Modell der Landwirtschaft angehen, gegen Großgrundbesitz, dass wir den Landbesitz demokratisieren. Über diesen Landbesitz wird die Natur, werden die Gemeingüter kommodifiziert und von Dingen, die zum Überleben notwendig sind, zu Waren um mit ihnen Geld zu machen. Wir brauchen ein nachhaltiges Modell der Landwirtschaft, ein Modell, in dem Mensch und Natur im Einklang sind. Und ich weiß nicht, ob ihr das wisst, aber Brasilien ist das Land, mit dem höchsten Einsatz von Agrochemikalien der Welt, über 400 Agrochemikalien sind in Brasilien zugelassen, viele davon sind auf dem europäischen Markt verboten. Sie werden in Brasilien noch eingesetzt. Es geht also um eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Modelle der Landwirtschaft, auf der einen Seite das Modell des Agrobusiness (agronegócio), also große Ländereien in wenigen Händen gegenüber kleinen geteilten Ländereien, eine Produktion für den Export und um Geld zu machen und gegenüber eine Produktion für Nahrungsmittel zum Überleben. Einsatz von sehr viel Chemikalien, welche die Natur stark zerstört und auf der anderen Seite, der Ansatz der Agrokultur, also der ökologischen Landwirtschaft.
Das ist das, was wir nach innen im MST besprechen, für was wir kämpfen. Und nach außen, in Bezug auf die gesamte Gesellschaft, kommunizieren wir, dass es einen Kampf für die Transformation der Gesellschaft braucht, denn es sind nicht nur wir, die Menschen, die auf dem Land wohnen, die von dem Entwicklungsmodell und der Umweltzerstörung betroffen sind, sondern alle, auch die Menschen, die in der Stadt wohnen sind betroffen, wie z.B. vom Klimawandel aber auch von Wasserknappheit. Dass es häufig in den Städten kein Trinkwasser mehr gibt, dass es keine gesunden Lebensmittel gibt. Das heißt, auch die Menschen in der Stadt müssen verstehen, dass es strukturelle Probleme sind. Dass das hegemoniale Modell der kapitalistischen Landwirtschaft oder Produktion auch die Menschen in der Stadt betrifft und letztlich auch die Menschheit als Ganzes, die von dem Modell des agronegócio betroffen ist. Es sind nicht nur ländliche Unternehmen, sondern auch im Dienstleistungssektor, im Handel, in der Industrie. Ein Beispiel ist z.B. Coca Cola. Coca Cola ist das Unternehmen in Brasilien, das am meisten Trinkwasser privatisiert hat. Wir müssen verstehen, dass die Natur allen gehört und im Dienste aller steht, und nicht nur einigen wenigen, und das nicht nur in Brasilien sondern eben überall auf der Welt.
Du hattest ja vorhin gesagt, dass die politische Praxis nicht nur auf lokaler Ebenen bleiben kann und eine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wichtig ist. Wie genau sieht diese Zusammenarbeit des MST mit anderen Organisationen aus?
In Brasilien gibt es sehr viele unterschiedliche Organisationen. Was uns wichtig ist, ist ein Verständnis von Klassenkampf. Es ist wichtig, ein Verständnis davon zu haben, was Klasse ist, was die Verhältnisse sind, wer die Verbündeten sind und wer die Feinde. Das ist wichtig, zu wissen. Um die Feinde gemeinsam bekämpfen zu können. Weil wir haben unterschiedliche Kämpfe, wir haben unterschiedliche Themen, aber der Feind ist der gleiche. Ein Beispiel, das ich erwähnen möchte, ist aus dem Bundesstaat, in dem ich lebe. Dort gibt es ein Bergbauunternehmen. Durch den Bergbau verlieren Menschen auf dem Land ihre Ländereien, sie haben also nicht mehr die Möglichkeit auf dem Land zu arbeiten und zu leben. Aber auch in der Stadt gibt es ein ganzes Viertel, in dem aufgrund der Tätigkeit dieses Bergbauunternehmens 800.000 Menschen ihre Häuser verlassen mussten. D.h. es hat ähnliche Auswirkungen, wie für die Leute auf dem Land. Also theoretisch sind es verschiedene Kämpfe auf dem Land und auf der Stadt, aber wenn man sich das genauer anguckt, dann sind es letztlich die gleichen Kämpfe und die gleichen Feinde. Und so ist es eben wichtig, die verschiedenen Segmente der Arbeiter:innenklasse zu organisieren, sei es die Obdachlosenbewegung, die Gewerkschaften, die Bewegungen, die für ein Recht auf Wasser kämpfen etc. Z.b. MAB, das ist die Bewegung von Menschen, die von Staudämmen betroffen sind [Movimento dos Atingidos por Barragens], die auch zu einer Referenz in Brasilien geworden ist. Manchmal wird es als eine Konkurrenz zum MST dargestellt, aber das ist es nicht. Es geht darum, sich zusammen zu tun. Wir haben auch geholfen, ihre Art der Basisarbeit aufzubauen. Es gibt auch die MAN, eine Bewegung der Menschen, die vom Bergbau betroffen sind (Movimento de Atingidos pela Mineração). Auch hier haben wir Aktivist:innen vom MST freigestellt, damit diese der Bewegung helfen, ihre Organisation aufzubauen. Es geht um eine Solidarität innerhalb der Klasse und zu verstehen, dass der Feind der gleiche ist. Auch in Deutschland, auch dort haben wir gleiche Feinde z.B. multinationale Unternehmen. Wir müssen ein Verständnis entwickeln, dass es nicht darum geht, ob oder dass wir besser sind als andere, sondern dass wir zusammen besser sind, um dem Feind die Stirn zu bieten.
Wir haben noch eine letzte Frage. Wir haben viel über Organisierung und Politisierung gesprochen. Welche Rolle spielen soziale oder kulturelle Aktivitäten innerhalb des MST und wie tragen sie zur Politisierung bei?
Das ist eine sehr gute Frage und auch sehr wichtig. Wir haben einen Begriff beim MST – aber es gibt ihn auch in anderen Bewegungen. Das ist der Begriff der Mystik. Also gemeinsame Feste, gemeinsame Rituale etc., das wird alles zusammen Mystik genannt. Diese Mystik nährt unseren Kampf, es ist auch eine Art von Utopie, die wir darin feiern und ausüben. Und wie ich schon gesagt habe, die Menschen sind keine Maschinen. Die Menschen haben Bedürfnisse, Gefühle, sie sind menschliche Wesen. Es geht bei der Mystik aber auch darum, ein bestimmte Art der Kultur zu bewahren. Beim MST sind über 500.000 Familien organisiert. Also tausende von verschiedenen Gemeinschaften, und es geht auch darum eine ländlicher Kultur zu erhalten, zu leben, nicht nur aber auch. Es geht auch um ideologische Fragen und darum, Werte, die der Kapitalismus zerstört aufrecht zu erhalten. Wie ich gesagt habe, die Menschen, die zum MST kommen, sind aus der Gesellschaft und bringen bestimmte Werte aus dieser mit, wie Individualismus, Chauvinismus, Homophobie usw. Da haben kulturelle Aktivitäten eine wichtige Aufgabe, andere Werte zu vermitteln. Oder auch bestimmte Werte zu behalten. Ich spreche von einer Art Musik, die nicht bestimmte Rollen oder Diskriminierung gegenüber Frauen vermittelt, sondern andere Werte. Es geht auch darum, ein Verständnis zu entwickeln, dass Kultur – also Theater, Musik etc. – kein Privileg der Oberschicht sind, die Zugang zu solchen Dingen haben, sondern ein Teil von uns allen. Und Musik, Theater usw. bietet auch eine Möglichkeit, Utopien schon ein Stück weit zu antizipieren. Denn es wird kein Wunder geben, nachdem wir plötzlich eine neue Gesellschaft haben. Sondern wir müssen die schon in einzelnen Schritten leben, neue Beziehungen entwickeln zwischen uns und das kann in kulturellen Veranstaltungen möglich sein. Die Herausforderungen sind sehr groß und es wird nicht einfach sein, aber es ist möglich, es zu schaffen.
Vielen Dank Débora, dass du dir die Zeit genommen hast. Das war sehr spannend für uns, sehr inspirierend und vor allem sehr stärkend. Vor allem auch die Kraft und die Klarheit – und wie du gesagt hast, die Leidenschaft, die aus so einer Organisierung und Kampf erwächst, die man auch in deinen Worten spürt. Wir denken, dass der MST eine Massenorganisation ist, die die Verbindung aus Organisation um soziale Kämpfe und Prozesse der politischen Bewusstwerdung sehr weit entwickelt hat und deshalb für uns eine Quelle der Inspiration ist, für den Weg, den wir hier in diesen Verhältnissen noch zu gehen haben. Natürlich können wir nicht einfach kopieren, aber wir können uns inspirieren lassen und gucken, was können wir für hier davon lernen und für die Entwicklung unserer Kämpfe benutzen. Wir hoffen, dass der Austausch weiter geht, dass wir weiter von euch lernen aber auch euren Kampf von hier aus unterstützen. Denn die Feinde – wie du gesagt hast, sind die gleichen, wenn auch mit unterschiedlichen Masken und auch unsere Kämpfe sind verbunden. In diesem Sinne möchten wir uns nochmal sehr bei dir bedanken und wir hoffen, dass wir uns in unseren Kämpfen weiter begegnen.
Ich möchte mit ein paar Überlegungen schließen. Zum einen, was ich schon gesagt habe, dass es kein Rezept gibt oder eine Formel, die man einfach kopieren kann. Sondern man muss immer lernen. Auch der MST hat immer von anderen Bewegungen gelernt und von der Quelle von anderen getrunken. Sowohl von indigenen Bewegungen in Brasilien, als auch Bewegungen von Schwarzen Menschen, die sich aus der Sklaverei befreit haben, aber auch Kämpfen weltweit, wie z.B. in Cuba. Aus der Geschichte und von anderen zu lernen, ist wirklich wesentlich. Nicht nur von den Kämpfen, sondern auch aus der Theorie, aus den Überlegungen zu lernen. Das andere, was ich sagen wollte ich. Es gibt auch eine politische Schule des MST in Brasilien1. Die Bewusstseinsarbeit im MST findet nicht nur in der Mobilisierung, der Besetzung statt sondern tatsächlich auch in einer Schule und im täglichen Reflektieren über die eigene Praxis. Und es gibt internationale Brigaden des MST, die weltweit unterwegs sind. Nicht nur um Dinge weiterzugeben, also z.B. Erfahrungen mit Alphabetisierungskampagnen oder landwirtschaftlichen Praktiken, wie z.B. in Cuba, in Afrika, Bolivien etc. Sondern auch um zu lernen, um andere Erfahrungen zu machen und diese zurück zu bringen. Und in dieser Schule des MST haben wir uns vor der Pandemie mit Menschen aus über 20 Ländern getroffen, v.a. aus Ländern aus Süd- und Mittelamerika, aber auch aus Europa um Erfahrungen auszutauschen. Weil es geht darum, dem Kapitalismus gemeinsam entgegen zu treten. Und es gibt auch verschiedene Komitees der Freund:innen des MST, auch in Deutschland gibt es so ein Komitee. Also ich bin es, die sich herzlich bei euch bedankt, für eure Zeit, dass ihr dabei geblieben seid. Auch für die Übersetzung. Und ich möchte mit einem Motto der Via Campesina, einem Zusammenschluss von Kleinbäuer:innen, der auf unterschiedlichen Kontinenten aktiv ist, enden: Internationalisieren wir die Kämpfe und internationalisieren wir die Hoffnung. Und auch die Parole von Marx „Proletarierer aller Länder, vereinigt euch“ ist so aktuell wie lange nicht mehr.
1 Escola Nacional Florestan Fernandes-ENFF